extinction rebellion: Eine Kritik an der Kritik
- oder: Anleitung zur Solidarität
von Melanie Schmidt-Krobok
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der »Freiheitsliebe« am 4. November 2019
www.diefreiheitsliebe.de
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Spätestens seit den Blockaden von Extinction Rebellion in Berlin überschlagen sich Rechte und Linke in Besserwisserei, Verschwörungstheorien, Hass und Hetze zu XR und nennen es Kritik. Bei Rechten überrascht das niemanden, für die Linke ist es traurig, wie sie sich an den Spaltungsversuchen der Klimabewegung und der Zerlegung einer neuen und schnell wachsenden Gruppe beteiligt.
Die Bundesregierung ignoriert 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen am 20.09.2019, die andauernden Proteste von FFF, alle Studien von Wissenschaftlern und verabschiedet etwas, was nicht einmal den Namen Klimapäckchen verdient hat. Die geplanten Maßnahmen sind ein Konjunkturprogramm und helfen dem Klima nicht einmal ansatzweise. Währenddessen üben sich viele mit der Tastatur in empörender Wortakrobatik mit teilweise haltlosen Behauptungen zu XR. Einige be- oder verurteilen die verschiedenen Ausprägungen zivilen Ungehorsams direkt und pauschal in richtig oder falsch und in gut oder böse. Es sind die immer wiederkehrenden Aussagen zu XR zu lesen: eine Sekte, hierarchisch, vom Kapital finanziert, zu radikal, zu wenig radikal also pseudoradikal, emotionalisieren mit der Angst spekulierend und so weiter und so fort.
Doch es geht auch anders. Große Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung und anderer linker Personen und Organisationen, wie Ende Gelände, Interventionistische Linke, Peng Kollektiv, Hedonistische Internationale, Teile von FFF, einzelne Politikerinnen üben solidarische Kritik an XR und beteiligen sich nicht an einem undifferenzierten Shitstorm. Auch wenn XR eine sehr widersprüchliche Bewegung ist und viel Anlass zur Kritik bieten mag, sollten wir kritisch mit der Kritik umgehen und auch den Sinn von Solidarität mit allen Aktivistinnen, also XR und der gesamten Klimabewegung diskutieren. Darum lasst uns über Kritik genauso diskutieren wie über Solidarität. Ein Wert, der doch von Linken so gerne bemüht wird.
Drei wiederkehrende Kritikpunkte:
Aufstand gegen das Aussterben
In unterschiedlicher Intensität wird kritisiert, XR emotionalisiere, propagiere die Apokalypse, die Aussagen entsprächen denen einer Sekte und würden jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren.
Natürlich emotionalisiert XR und arbeitet mit Bildern. Das machen Bewegungen, Vereine, Parteien und am erfolgreichsten das Kapital mit Werbung und indirekter Beeinflussung. Soweit also nicht Besonderes. Ist die Aussage, dass die Menschheit vom Aussterben bedroht ist denn tatsächlich übertrieben? Leider ist das keine Erfindung von XR, sondern entspricht Szenarien, die Wissenschaftler in Modellen durchgespielt haben. Genau das greift XR auf und warnt davor, das ist was anderes als unterstellter quasireligiöser Glaube. Großes Aufsehen hat die Studie einer australischen Forschergruppe erregt, die das Ende der Menschheit Mitte des Jahrhunderts sehen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine EU-Studie Warum das IPCC oder Klimaforschungsinstitute in ihren Prognosen und in ihrer Sprache deutlich gemäßigter auftreten, erklärt z.B. Prof. Schellhuber sehr anschaulich. XR greift also wissenschaftliche Studien auf und warnt vor einer drohenden Gefahr, die sehr konkret wird, wenn wir die CO2 Emissionen nicht drastisch reduzieren. Man kann sehr kontrovers darüber diskutieren, ob die Sprache und Bilder von XR zielführend sind, welche Wirkung sie auslösen und ob sie eher Menschen dazu bewegen, das Thema aus einem Gefühl der Ohnmacht zu ignorieren oder ob es Menschen ermutigt, aktiv zu werden. Die Entwicklung der Gruppe und die wachsende Anzahl Menschen, die sich dort engagieren, sprechen eher für eine erfolgreiche Mobilisierung, grade auch aus der bürgerlichen Mitte. Die Warnung vor diesen Szenarien als quasireligiöse Spinnerei darzustellen und XR damit zur Sekte erklären zu wollen, zeugt entweder von Unkenntnis oder von einer Diffamierungsabsicht.
XR ist hierarchisch und keine Graswurzelbewegung XR wurde in England gegründet und funktioniert zunächst wie ein FranchiseSystem. Werte, Aussagen, Forderungen, Design, Struktur- alles ist vorbereitet. Jede Person kann in ihrem Ort eine XR Gruppe gründen, wenn sie sich den Vorgaben anschließt und bekommt alles zur Verfügung gestellt inkl. eines Zugangs zu einer Kollaborationsplattform. Das ist hierarchisch und „von oben“ durchorganisiert. Die Kritik daran ist durchaus berechtigt. Das kann man als Problem sehen. Gleichzeitig scheint das ein Erfolgsfaktor für das schnelle Wachstum der Gruppe zu sein. Der Einstieg ist leicht und schnell, jede Person kann mitmachen. Viele Dinge sind vorbereitet. Genau hierin liegt auch eine Chance. Insbesondere Menschen, die bisher nicht in Bewegungen, vielleicht insgesamt nicht politisch aktiv waren, wird der Einstieg erleichtert, es gibt einen Onboarding Prozess, der sogar erklärtermaßen auf schnelles Wachstum zielt. Dieses schnelle Wachstum bedeutet natürlich auch Veränderung und Entwicklung. Es gibt inzwischen hunderte Ortsgruppen, tausende Menschen bringen ihre eigenen Ansichten, Vorstellungen und Werte ein und beginnen, das System XR zu beeinflussen und zu verändern. Die Bewegung ist gar nicht leicht autoritär zu steuern. Linke Kritiker sollten hinschauen, womit sie es lokal zu tun haben und kein Generallable vergeben.
Bewegungen leben von Vielfalt, Solidarität und Entwicklung. Das alles erfährt auch XR. Fehler, wie die fehlende oder späte Solidarisierung mit anderen Gruppen der Klimabewegung, Datensammlung statt Datenschutz in der Vorbereitung der Rebellion Week, rassismusverdächtige Aussagen, unsolidarisches Verhalten in der Blockade (Hamburg), unkluge Aussagen einzelner Ortsgruppen in den sozialen Medien, wurden bereits zugegeben und korrigiert. Bei XR hat eine darüberhinausgehende Debatte zur Klassenfrage begonnen, postkoloniale Machtstrukturen werden erkannt und diskutiert und schlussendlich wird auch der etwas oberflächlich definierte Gewaltbegriff, durchaus streitbar zum Gesprächsthema. XR diskutiert, lernt und entwickelt sich von unten.
Radikalität: zu radikal oder pseudoradikal
Sie machen Die-ins und Straßenblockaden, meistens nur für wenige Minuten und häufig sogar bei der Polizei angemeldet. Für die einen ist das noch längst kein ziviler Ungehorsam, für andere sind es erste radikale Erfahrungen. Beides ist richtig. Menschen sind auch in Bewegungen unterschiedlich. Wenn nun XR eher Menschen anspricht, für die ziviler Ungehorsam eine neue Aktionsform ist, ist das doch großartig, oder? Tatsache ist auch, dass XR über Tage Straßen und Plätze in Berlin unermüdlich blockiert hat, zahlreiche Lock-ons dabei waren und bei aller bemühten Gewaltfreiheit und Freundlichkeit auch erste Gewalterfahrungen mit der Polizei machen musste. Die Aktionswoche in Berlin hat viel Aufmerksamkeit erregt und beigetragen das Thema in eine breite Öffentlichkeit zu tragen.
Liebe linke Kritiker*innen: Lasst uns über die Klimakatastrophe selber reden, statt uns vorrangig an Spaltungsdiskussionen zu beteiligen und verurteilen doch keine Gruppe, die in Deutschland grade ihre erst große Aktion hatte. Wieviel mehr hätte XR erreichen können, wenn mehr andere Protagonisten deren Aktionen zum Anlass genommen hätten, das Versagen der Politik zu thematisieren. Dann gibt es noch einige Berufsideologen, welche die reine und wahre Lehre vertreten und die einzig richtigen linken Positionen vertreten. Um den Planeten vor der Klimakatastrophe bewahren zu wollen, muss man nicht im ersten Zuge, die Klassenfrage „richtig“ beantworten, in jedem dritten Satz „antikapitalistisch“ rufen, oder das Mehrwertgesetz kennen. Leider sind diese Ideologen weder solidarisch noch verbindend oder auch nur strategisch klug.
Solidarität statt Spaltung
Ich muss in einem Kampf ums Überleben der Menschen innerhalb einer Bewegung nicht jede Gruppierung großartig finden, ich muss nicht jede Ansicht völlig teilen und ich muss nicht alles mitmachen. Entscheidend ist, ob wir ein gemeinsames Ziel haben, eine ausreichende Schnittmenge und keine fundamentalen Werte- oder Zielkonflikte. Dann kann ich mich entweder beteiligen, konstruktiv Kritik üben oder aus der Distanz beobachten. Mit Solidarität, Respekt, Toleranz und direkten Kontakt, also miteinander Reden werden wir vielleicht gemeinsam so stark und groß, dass wir eine Veränderung erreichen können.
In dem Sinne, seid solidarisch und redet mehr miteinander statt übereinander!
Die Bundesregierung ignoriert 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen am 20.09.2019, die andauernden Proteste von FFF, alle Studien von Wissenschaftlern und verabschiedet etwas, was nicht einmal den Namen Klimapäckchen verdient hat. Die geplanten Maßnahmen sind ein Konjunkturprogramm und helfen dem Klima nicht einmal ansatzweise. Währenddessen üben sich viele mit der Tastatur in empörender Wortakrobatik mit teilweise haltlosen Behauptungen zu XR. Einige be- oder verurteilen die verschiedenen Ausprägungen zivilen Ungehorsams direkt und pauschal in richtig oder falsch und in gut oder böse. Es sind die immer wiederkehrenden Aussagen zu XR zu lesen: eine Sekte, hierarchisch, vom Kapital finanziert, zu radikal, zu wenig radikal also pseudoradikal, emotionalisieren mit der Angst spekulierend und so weiter und so fort.
Doch es geht auch anders. Große Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung und anderer linker Personen und Organisationen, wie Ende Gelände, Interventionistische Linke, Peng Kollektiv, Hedonistische Internationale, Teile von FFF, einzelne Politikerinnen üben solidarische Kritik an XR und beteiligen sich nicht an einem undifferenzierten Shitstorm. Auch wenn XR eine sehr widersprüchliche Bewegung ist und viel Anlass zur Kritik bieten mag, sollten wir kritisch mit der Kritik umgehen und auch den Sinn von Solidarität mit allen Aktivistinnen, also XR und der gesamten Klimabewegung diskutieren. Darum lasst uns über Kritik genauso diskutieren wie über Solidarität. Ein Wert, der doch von Linken so gerne bemüht wird.
Drei wiederkehrende Kritikpunkte:
Aufstand gegen das Aussterben
In unterschiedlicher Intensität wird kritisiert, XR emotionalisiere, propagiere die Apokalypse, die Aussagen entsprächen denen einer Sekte und würden jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren.
Natürlich emotionalisiert XR und arbeitet mit Bildern. Das machen Bewegungen, Vereine, Parteien und am erfolgreichsten das Kapital mit Werbung und indirekter Beeinflussung. Soweit also nicht Besonderes. Ist die Aussage, dass die Menschheit vom Aussterben bedroht ist denn tatsächlich übertrieben? Leider ist das keine Erfindung von XR, sondern entspricht Szenarien, die Wissenschaftler in Modellen durchgespielt haben. Genau das greift XR auf und warnt davor, das ist was anderes als unterstellter quasireligiöser Glaube. Großes Aufsehen hat die Studie einer australischen Forschergruppe erregt, die das Ende der Menschheit Mitte des Jahrhunderts sehen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine EU-Studie Warum das IPCC oder Klimaforschungsinstitute in ihren Prognosen und in ihrer Sprache deutlich gemäßigter auftreten, erklärt z.B. Prof. Schellhuber sehr anschaulich. XR greift also wissenschaftliche Studien auf und warnt vor einer drohenden Gefahr, die sehr konkret wird, wenn wir die CO2 Emissionen nicht drastisch reduzieren. Man kann sehr kontrovers darüber diskutieren, ob die Sprache und Bilder von XR zielführend sind, welche Wirkung sie auslösen und ob sie eher Menschen dazu bewegen, das Thema aus einem Gefühl der Ohnmacht zu ignorieren oder ob es Menschen ermutigt, aktiv zu werden. Die Entwicklung der Gruppe und die wachsende Anzahl Menschen, die sich dort engagieren, sprechen eher für eine erfolgreiche Mobilisierung, grade auch aus der bürgerlichen Mitte. Die Warnung vor diesen Szenarien als quasireligiöse Spinnerei darzustellen und XR damit zur Sekte erklären zu wollen, zeugt entweder von Unkenntnis oder von einer Diffamierungsabsicht.
XR ist hierarchisch und keine Graswurzelbewegung XR wurde in England gegründet und funktioniert zunächst wie ein FranchiseSystem. Werte, Aussagen, Forderungen, Design, Struktur- alles ist vorbereitet. Jede Person kann in ihrem Ort eine XR Gruppe gründen, wenn sie sich den Vorgaben anschließt und bekommt alles zur Verfügung gestellt inkl. eines Zugangs zu einer Kollaborationsplattform. Das ist hierarchisch und „von oben“ durchorganisiert. Die Kritik daran ist durchaus berechtigt. Das kann man als Problem sehen. Gleichzeitig scheint das ein Erfolgsfaktor für das schnelle Wachstum der Gruppe zu sein. Der Einstieg ist leicht und schnell, jede Person kann mitmachen. Viele Dinge sind vorbereitet. Genau hierin liegt auch eine Chance. Insbesondere Menschen, die bisher nicht in Bewegungen, vielleicht insgesamt nicht politisch aktiv waren, wird der Einstieg erleichtert, es gibt einen Onboarding Prozess, der sogar erklärtermaßen auf schnelles Wachstum zielt. Dieses schnelle Wachstum bedeutet natürlich auch Veränderung und Entwicklung. Es gibt inzwischen hunderte Ortsgruppen, tausende Menschen bringen ihre eigenen Ansichten, Vorstellungen und Werte ein und beginnen, das System XR zu beeinflussen und zu verändern. Die Bewegung ist gar nicht leicht autoritär zu steuern. Linke Kritiker sollten hinschauen, womit sie es lokal zu tun haben und kein Generallable vergeben.
Bewegungen leben von Vielfalt, Solidarität und Entwicklung. Das alles erfährt auch XR. Fehler, wie die fehlende oder späte Solidarisierung mit anderen Gruppen der Klimabewegung, Datensammlung statt Datenschutz in der Vorbereitung der Rebellion Week, rassismusverdächtige Aussagen, unsolidarisches Verhalten in der Blockade (Hamburg), unkluge Aussagen einzelner Ortsgruppen in den sozialen Medien, wurden bereits zugegeben und korrigiert. Bei XR hat eine darüberhinausgehende Debatte zur Klassenfrage begonnen, postkoloniale Machtstrukturen werden erkannt und diskutiert und schlussendlich wird auch der etwas oberflächlich definierte Gewaltbegriff, durchaus streitbar zum Gesprächsthema. XR diskutiert, lernt und entwickelt sich von unten.
Radikalität: zu radikal oder pseudoradikal
Sie machen Die-ins und Straßenblockaden, meistens nur für wenige Minuten und häufig sogar bei der Polizei angemeldet. Für die einen ist das noch längst kein ziviler Ungehorsam, für andere sind es erste radikale Erfahrungen. Beides ist richtig. Menschen sind auch in Bewegungen unterschiedlich. Wenn nun XR eher Menschen anspricht, für die ziviler Ungehorsam eine neue Aktionsform ist, ist das doch großartig, oder? Tatsache ist auch, dass XR über Tage Straßen und Plätze in Berlin unermüdlich blockiert hat, zahlreiche Lock-ons dabei waren und bei aller bemühten Gewaltfreiheit und Freundlichkeit auch erste Gewalterfahrungen mit der Polizei machen musste. Die Aktionswoche in Berlin hat viel Aufmerksamkeit erregt und beigetragen das Thema in eine breite Öffentlichkeit zu tragen.
Liebe linke Kritiker*innen: Lasst uns über die Klimakatastrophe selber reden, statt uns vorrangig an Spaltungsdiskussionen zu beteiligen und verurteilen doch keine Gruppe, die in Deutschland grade ihre erst große Aktion hatte. Wieviel mehr hätte XR erreichen können, wenn mehr andere Protagonisten deren Aktionen zum Anlass genommen hätten, das Versagen der Politik zu thematisieren. Dann gibt es noch einige Berufsideologen, welche die reine und wahre Lehre vertreten und die einzig richtigen linken Positionen vertreten. Um den Planeten vor der Klimakatastrophe bewahren zu wollen, muss man nicht im ersten Zuge, die Klassenfrage „richtig“ beantworten, in jedem dritten Satz „antikapitalistisch“ rufen, oder das Mehrwertgesetz kennen. Leider sind diese Ideologen weder solidarisch noch verbindend oder auch nur strategisch klug.
Solidarität statt Spaltung
Ich muss in einem Kampf ums Überleben der Menschen innerhalb einer Bewegung nicht jede Gruppierung großartig finden, ich muss nicht jede Ansicht völlig teilen und ich muss nicht alles mitmachen. Entscheidend ist, ob wir ein gemeinsames Ziel haben, eine ausreichende Schnittmenge und keine fundamentalen Werte- oder Zielkonflikte. Dann kann ich mich entweder beteiligen, konstruktiv Kritik üben oder aus der Distanz beobachten. Mit Solidarität, Respekt, Toleranz und direkten Kontakt, also miteinander Reden werden wir vielleicht gemeinsam so stark und groß, dass wir eine Veränderung erreichen können.
In dem Sinne, seid solidarisch und redet mehr miteinander statt übereinander!